Es ist als Berater immer wieder spannend zu beobachten, dass die Ressourcenverteilung in Organisationen nicht immer (wie vorgegeben) logischen bzw. zweckrationalen Gesichtspunkten folgt. Viele Unternehmen regeln Entscheidungsbefugnisse zentral, trotzdem haben Beziehungsnetzwerke, politisches Agieren und vor allem erfolgreiches Durchsetzungsverhalten Einfluss darauf, welche Fachbereiche bzw. welche Führungskräfte Ressourcen zugesprochen bekommen und welche nicht. Ich möchte in diesem Artikel Netzwerke/ Verbündete einmal weglassen und die Psychologie der Durchsetzung beleuchten.
Die gesamte soziale Kompetenz wird von zwei gegenpoligen Grundkräften hervorgebracht: der ICH-Kraft und der WIR-Kraft. ICH-Kraft hilft uns „das Eigene“ in die Welt zu bringen. WIR-Kraft stellt Beziehung/ Bindung zu anderen her und regelt den sozialen Austausch. Die beiden Grundkräfte sind bei jedem Menschen in unterschiedlichem Verhältnis angelegt und von Geburt an wirksam. Man kann das bei spielenden Kindern in der Sandkiste beobachten. Kinder im Alter von 2-3 Jahren sind noch nicht ausreichend sozialisiert, um den Erwartungen der Eltern zu entsprechen. Die anlagebedingte Ausstattung bestimmt noch stark ihr Verhalten. ICH-orientierte Kinder schnappen in der Sandkiste nach allem, das ihr Interesse weckt. Sie schrecken vor Konflikten (und manchmal auch Handgreiflichkeiten) nicht zurück – nach dem Motto: „Gibst du mir dein Küberl oder muss ich mein Schaufferl sprechen lassen?“. WIR-orientierte Kinder „verteilen“ bereitwillig ihre Spielsachen, gehen manchmal mit weniger nach Hause als sie gekommen sind, sind selbstverständlich bei den Eltern der anderen Kinder beliebter und werden daher häufig zu Kindergeburtstagen eingeladen.
Durchsetzung, die Kernkompetenz der ICH-Kraft, kann so definiert werden: Durchsetzung ist die Kompetenz, die eigenen Interessen gegenüber den Interessen von anderen – auf eine sozial angemessene Weise – zu behaupten. Treffen verschiedene Interessen aufeinander, kann man davon ausgehen, dass soziale Spannung entsteht. So gesehen ist Durchsetzungsfähigkeit an die Bereitschaft gekoppelt, Spannung in Kauf zu nehmen und Spannung „zu halten“.
Durchsetzung wird häufig mit Überzeugen verwechselt. Beim Überzeugen wird mittels Argumente jemand dazu gebracht, etwas zu tun, was sie/er sonst nicht tun würde. Beim Überzeugen wird am Ende das (angestrebte) Verhalten freiwillig erbracht. Spannung ist dabei notwendigerweise nicht im Spiel. Dazu ein Beispiel. Ein Freund wurde vor Jahren in der Wiener Innenstadt von einem Italiener in gebrochenem Deutsch aus dem Auto heraus angesprochen. Als Einstieg wollte er wissen, wie er am schnellsten zur Autobahn kommt. Dann verwickelte er den Mann in ein Gespräch und erzählte ihm, dass er als Juniorchef einer italienischen Modefirma in Wien die Modemesse besucht hatte. Immer noch im Auto sitzend, schenkte er meinem überraschten Freund ein Sakko und einen Mantel. Danach erzählte er von seinen wilden Nächten in Wien und sagte, dass er zu wenig Geld dabei hätte, um ausreichend Benzin kaufen zu können. Er bat ihn um Geld, das er, sobald er zu Hause sei, sofort zurückschicken würde. Die Argumente und die Dramaturgie der Geschichte waren sehr gut aufgebaut, wirklich großes Kino. Obwohl mein Freund im Laufe des Gesprächs Verdacht schöpfte, gab er ihm einige hundert Euro. Er hat sein Geld nicht wieder gesehen. An diesem Beispiel kann man sehen, dass die Grenze zwischen Überzeugen und Manipulation fließend ist.
Dem Durchsetzungsverhalten sind WIR-orientierte Vorgehensweisen vorgelagert. Die „softeste” Variante ist „Wünschen“ – man äußert einen Wunsch, dieser kann erfüllt werden oder auch nicht. Gefolgt vom „Bitten“ – man bittet um etwas, die andere Person kann der Bitte nachkommen oder auch nicht. Führungskräfte verwenden oft „Appelle“. Appelle sind „Motivationsbotschaften“. Sie sprechen die Bedürfnis- und Motivationsstruktur des Gegenübers an. Vor kurzem hat beispielsweise ein Mann im Coaching erzählt, dass er seine MitarbeiterInnen für Mehrarbeit am Wochenende durch den Appell an ihren Teamspirit gewonnen hat: „Gemeinsam schaffen wir das!“
Ganz allgemein gilt: wenn wir es mit WIR-orientierten Menschen zu tun haben, sind „softe Formen“ manchmal auch ausreichend, um das zu bekommen, was man möchte.
Ganz anders ist es, wenn beim Vis-a-vis die ICH-Kraft im Vordergrund steht. ICH-orientierte Menschen haben die eigenen Interessen sehr gut im Blick, gewichten diese hoch und kommen anderen nur ungern entgegen.
„Richtiges“ Durchsetzen beginnt beim „Fordern“. Bei einer Forderung schlagen wir eine deutliche Markierung in den interaktiven Raum ein. Forderungen können in jeder Situation, unabhängig von hierarchischer Beziehung, gestellt werden. Sie können in ein Lebensmittelgeschäft gehen und vor der Imbisstheke folgenden Satz loslassen: „Ich bekomme eine Leberkäsesemmel mit einer dicken Schnitte Leberkäse und vielen Essiggurkerl um einen Euro!“ Im zweiten Schritt können Sie entspannt beobachten, wie Ihr Gegenüber reagiert und gegebenenfalls Ihre Forderung wiederholen (Hartnäckigkeit). Ob einer Forderung nachgegeben wird oder nicht, hängt vom Gegenüber und der „Bestimmtheit/ Selbstverständlichkeit“ ab, mit der Sie die Forderung stellen.
Forderungen sind umso wirksamer, je mehr sie mit Konsequenzen verbunden sind. Stellen Sie sich eine Situation im Unternehmen vor, in der es um die Pünktlichkeit einer Mitarbeiterin geht. Es macht einen Unterschied, wie die Führungskraft das kommuniziert:
Im alternativ pädagogischen Bereich ist die Empfehlung, mit “natürlichen” Konsequenzen zu arbeiten. Das wäre beispielsweise gegeben, wenn das zu spät kommen ein Disziplinargespräch nach sich zieht.
Eine sehr hohe Verhaltensausprägung wird im Balanced Six Modell als Übersteigerung tituliert und kann ein Zuviel des Guten darstellen. Eine Übersteigerung im Durchsetzungsverhalten liegt dann vor, wenn Drohung und Erpressung angewendet wird. Eine Drohung ist eine unangemessene und keine “natürliche” Konsequenz und versucht, das Gegenüber unter Druck zu setzen und zu verunsichern. Als Beispiel: “Wenn du noch einmal zu spät kommst, kannst du dir gleich einen anderen Job suchen!” In hierarchischen Beziehungen sind Konsequenzen mit Machtmitteln verbunden. Das heißt nicht, dass nur die hierarchisch höhere Instanz Machtmittel auf ihrer Seite hat. Gerade definitiv gestellte MitarbeiterInnen (sie können nicht so einfach gekündigt werden) haben Machtmittel zur Verfügung. Der Einsatz von Machtmitteln sollte vonseiten der Führungskraft dosiert erfolgen. Andernfalls schwächt das ihre Autoritätsposition.
Menschen, die hartnäckig dranbleiben, haben beim Verfolgen ihrer Interessen mehr Erfolg. Das gilt auch dann, wenn sie softe Varianten einsetzen. Hartnäckigkeit zahlt sich aus. Wie heißt es so schön: „Steter Tropfen höhlt den Stein“. Die wesentlichste Moderatorvariable für Durchsetzung ist die persönliche Substanz einer Person. Je stabiler, selbstsicherer und entspannter eine Person (im INNEN) ist, desto wirksamer wird ihr Durchsetzungsverhalten. Klarheit im INNEN ist ein Ergebnis von einem stabilen inneren Kern: „Ich weiß, was ich will, kann es klar, direkt und entspannt sagen, habe kein Problem damit, dass andere Personen andere Interessen haben und halte Spannung gut aus.“ Menschen, mit wenig persönlicher Substanz sind im INNEN unsicher. Sie verwenden häufig eine WIR-orientierte Positionierung. Spannung wird dadurch vermieden und die INNEN-Seite wird weniger belastet/ getestet bzw. geschont. Ursachen dieser Unsicherheit sind oftmals in der Kindheit angelegte „Lebensprogramme“, verbunden mit Scham- und Schuldgefühlen. Mehr dazu gibt es in einem anderen Blog-Artikel.
Die Angemessenheit im Bereich der sozialen Kompetenz wird immer auch vom äußeren Rahmen bzw. den Umgebungsbedingungen bestimmt (Hofstede, 1980; House et al., 2004). Die Unternehmenskultur legt fest, welche Verhaltensweisen opportun sind und welche nicht. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass in skandinavischen Ländern WIR-bezogene Vorgehensweisen im Vordergrund stehen (Langaas & Mujtaba, 2023; Smith et al., 2011; Warner-Søderholm, 2012). Bei einem Kundenprojekt durfte ich ein Managementteam in Schweden begleiten. Konfliktäre Themen wurden sehr lange diskutiert. Der gemeinsame Nenner war das (unausgesprochene) Ziel.
Länder mit einer stärkeren ICH-Orientierung findet man in Osteuropa. MitarbeiterInnen erwarten dort von ihren Vorgesetzten deutlich direktivere Verhaltensweisen als anderswo in Europa. Im DACH-Raum herrscht eine eher ausgewogene ICH-WIR Verteilung. In Deutschland stehen Vernunft und Logik etwas im Vordergrund, in Österreich herrscht ein wenig mehr Pragmatik, Informelles gewinnt an Bedeutung.
Diese Frage ist vor allem für Menschen interessant, die anlagebedingt von der WIR-Seite kommen. Im ersten Schritt geht es darum, klar zu bekommen, „was ich wirklich, wirklich will?“. Wir haben in unserem emotionalen System jede Menge Sensoren verbaut, die ständig messen und rückmelden, ob etwas stimmig ist, passt oder auch nicht passt. Den Kontakt zu dieser Ebene, diesen Sensoren nennt man „Selbstwahrnehmung“. Unsere funktionale Welt fordert uns ständig auf, den Blick nach AUSSEN zu richten. Die Selbstwahrnehmung (Blick nach INNEN) ist daher bei vielen Menschen „verkümmert“. Die gute Nachricht lautet: der Blick nach INNEN kann reaktiviert werden. Wir haben ein Trainingsprogramm dafür entwickelt. Es heißt EMISKO: emotional intelligent, sozial kompetent – eine genaue Beschreibung finden Sie in unserem Shop.
Im zweiten Schritt geht es ums „Forderungen stellen“. Forderungen sind das rhetorisch stärkste Mittel beim Durchsetzen. Beim Führungskräfte-Coaching gibt es jede zweite Woche einen +20% Tag. An diesem Tag werden alle Wünsche, Bitten, Forderungen, usw., um 20% bestimmter formuliert. Aus einem „Kann ich das bis morgen Vormittag haben?“ wird ein „Ich brauche das bis morgen Vormittag!“ Ziel ist es, in einem entspannten Zustand neue Erfahrungen zu machen. Beim Stellen der Forderung sollte die Wahrnehmung auf das Gegenüber gerichtet werden. Wie reagiert es? Was kommt dabei heraus? Wie sehr kann das eigene Verhaltensrepertoire erweitert werden?
Ich wende diese Übung auch selbst an. Letztes Jahr konnte ich einen Langstreckenflug nicht antreten. Automatisch wurde auch der Rückflug annulliert. Also bin ich zum Schalter der Fluglinie gegangen und habe „geübt“. Als eher WIR-orientierter Mensch wäre ich es normalerweise so angegangen: „Ich habe meinen Flug verpasst und dadurch wurde auch mein Rückflug gestrichen. Gibt es in diesem Fall eine Möglichkeit, das Geld zurückzubekommen?“
Ich lade Sie abschließend ein, diese kleine Übung selbst zu machen. Schreiben Sie in die Kommentare oder uns per Mail Ihre +20% Version. Unter allen Antwortenden verlosen wir eine kostenfreie Teilnahme am Workshop ICH-Kraft Training.
Ich wünsche Ihnen viel Freude im Beruf.
Quellen:
Hofstede, G. (1980). Culture’s consequences: International differences in work-related values. London: Sage.
House, R.J., Hanges, P.J., Javidan, M., Dorfman, P.W. & Gupta V. (2004). Culture, leadership, and organizations: the GLOBE study of 62 societies. (2005). Choice/Choice Reviews, 42(07), 42–4132. https://doi.org/10.5860/choice.42-4132
Langaas, M. & Mujtaba, B. G. (2023). Communication across Cultures in the Workplace: Swimming in Scandinavian Waters. Open Journal Of Social Sciences, 11(04), 174–192. https://doi.org/10.4236/jss.2023.114014
Smith, P. B., Torres, C., Hecker, J., Chua, C. H., Chudzikova, A., Değirmencioğlu, S. M., Donoso-Maluf, F., Chen, N. Y., Harb, C., Jackson, B., Malvezzi, S., Mogaji, A., Pastor, J. C., Perez‐Floriano, L. R., Srivastava, B. N., Stahl, G. K., Thomason, S. J. & Yanchuk, V. (2011). Individualism–collectivism and business context as predictors of behaviors in cross-national work settings: Incidence and outcomes. International Journal of Intercultural Relations, 35(4), 440–451. https://doi.org/10.1016/j.ijintrel.2011.02.001
Warner-Søderholm, G. (2012). Culture Matters: Norwegian Cultural Identity Within a Scandinavian Context. Sage Open, 2(4). https://doi.org/10.1177/2158244012471350